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Quereinsteiger im Schlachthof: „Unser gesellschaftliches Erbe geht verloren“

Quereinsteiger im Schlachthof: „Unser gesellschaftliches Erbe geht verloren“

Die Welt ist ruhig um vier Uhr früh, die Luft riecht sauber. Ich schalte das Licht an im Schlachthaus von Herrmannsdorf. Ich bin der Erste. Meistens bin ich der Zweite und lasse unserem Schlachtchef Alexander den Vortritt. Er schätzt die Ruhe der ersten halben Stunde auch; ich respektiere das. Aber heute ist es anders. Heute habe ich Schlachtprüfung! Seit einem halben Jahr arbeite ich im Herrmannsdorfer Schlachtteam. Sechs Monate habe ich jedes Tier mitbegleitet vom Stall bis zur Schleuse der Zerlegung. Sechs Monate habe ich die vielen Handgriffe beobachtet, nachgemacht und wiederholt, die es benötigt, um ein Tier zu schlachten, es auszunehmen und für den Zuschnitt vorzubereiten. Ich kenne hier nahezu jeden Handgriff. Ich habe den Rhythmus des Teams verinnerlicht. Dennoch bin ich nervös. Heute kommen drei erfahrene Meister und werden meine Arbeit beurteilen.

Der Schlachttag beginnt

Zu meinen ersten Aufgaben gehört der Aufbau der Arbeitsstrecke. Je nach Tag und Tier (hier sind es Rinder, Schweine oder Schafe) ist diese anders. Ich erledige das ohne die Beleuchtung in den Ställen anzuschalten. Meist reicht das Oberlicht aus und ich will die Tiere noch nicht stören. Mein zweiter Blick gilt den Ställen: Wie viele Tier sind da? Sind sie ruhig? In welcher Reihenfolge können wir sie treiben? Der amtliche Tierarzt war bereits am Vorabend da und hat sie lebend begutachtet. Welche Notizen hat er sich gemacht? Hat er uns Weisungen hinterlassen?

Nach und nach treffen meine Kollegen ein und bereiten ihre Stationen vor. Es wird wenig gesprochen. Heute schlachten wir Schweine, da sind wir nur zu viert. Auch sonst ist das Team klein, bei Schafen reichen drei. Häufig kommen Beobachter: Besuchende Metzger, Gutachter der verschiedenen Bioverbände oder Studenten landwirtschaftlicher oder veterinärmedizinischer Fachrichtungen. Auch interessierte Kunden waren schon da. Heute eben meine Prüfer.

Es geht los. Alexander öffnet die erste Bucht und ich stehe mit der Betäubungszange bereit. Schweine sind großartige Tiere! Sie sind sehr intelligent und willensstark, haben wache Augen und sind unendlich neugierig. Auch suchen sie ständig Futter. Hier reicht das Öffnen der Stalltür und das erste Tier trabt herein und sucht. Treiben ist selten nötig.

Foto: Vivi d’Angelo

Ein Ruck geht durch das Tier

Ich stelle mich neben das erste Tier. Es ist weiblich, sicherlich 120 kg schwer und reicht mir bis an die Oberschenkel. Mein eigener Herzschlag beschleunigt sich stark, ich spüre das Klopfen in meinem Hals. Ich fixiere eine Stelle hinter den Ohren, bewege mich einige Schritte mit dem Tier und packe zu. Ein Ruck geht durch das Tier, es bäumt sich nach oben und vorne. Ich nutze das, um es nach rechts zu ziehen. Das Herz liegt frei. Ich setze die Zange in einer Bewegung auf das Herz und den Kopf um und packe ein zweites Mal zu. Beim ersten Zupacken wurde es ohnmächtig, nun habe ich im Herz Kammerflimmern ausgelöst; die Blutversorgung steht still, das Gehirn wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Technisch ist es jetzt schon tot. Ich lege die Zange beiseite, greife zum Messer, visiere eine Stelle vor dem Brustknochen an und steche zu. Noch wie das Messer im Körper ist, bildet sich eine Druckschwellung. Ich ziehe das Messer und das Blut schießt heraus. Dieses Mal habe ich gut getroffen. Es wird alles schnell gehen. Alex nimmt mir das Messer aus der Hand. Genügend geübt. Ich werde an einer anderen Stelle gebraucht. Und die Prüfer kommen erst um acht Uhr.

Auf das Schlachten ist man nicht vorbereitet. Keiner ist das; nicht bei der ersten Sau, sicherlich nicht bei der nächsten. Nie!

Neugier, Aufmerksamkeit, Erwartung

Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Temple Grandin beschreibt den Jagdinstinkt als „… angenehme Gefühle intensiver Neugier, konzentrierter Aufmerksamkeit und williger Erwartung.“ Konkret: „… pleasurable feelings of engaged curiosity, intense interest and eager anticipation“ (Temple Grandin, „Animals in Translation). Sie zitiert dabei Studien, die den Sinn für das Schlachten / Jagen in Verbindung bringen mit Bereichen im Gehirn, die dem Instinkt für das Suchen, dem Aufstöbern und der Neugierde zugrunde liegen. Diese sorgen für einen Ausstoß von Endorphinen und werden mit positiven Gefühlen verbunden. Neugierde, Aufmerksamkeit und Anspannung sind tatsächlich Gefühle beim Schlachten, die ich bestätigen kann. Allerdings mischen sich viele weitere Emotionen dazu: Erschöpfung, Schutzbedürfnis, Mitleid und Zuneigung.

Diese Gefühle klingen nicht nur widersprüchlich, sie sind es auch. Jedes Tier ist einzigartig, jeder Tötungsakt ebenfalls. Am Ende liegt das Tier tot und ausgeblutet vor einem. Ist es hier noch Tier oder schon Fleisch? Für mich ist es gerade jetzt noch Tier! Die Intensität des Schlachtens verwandelt sich in Verantwortung; das Schlachten bindet an das Lebewesen.

Foto: Vivi d’Angelo

Der Übergang zum Lebensmittel

In Herrmannsdorf verbindet eine schwere Schutztüre den Schlacht- mit dem Zerlegeraum. Vor dieser Türe werden die Tiere bzw. Tierhälften gewogen, klassifiziert und in das Computersystem übernommen. Alle Rinder sind beispielsweise mit einem Rinderpass ausgestattet. Hier sind alle technischen Daten wie Geschlecht, Geburtsort und -datum eingetragen und per Barcode computerlesbar gemacht. Da Herrmannsdorf viele Partnerbauern hat, die lediglich kleine Herden führen, bringt eine Bäuerin oftmals nur ein oder zwei Tiere. Gerade bei älteren Tieren erkennt man, wie schwer es den Landwirten fällt, sich von ihnen zu trennen: Manchmal schreiben sie den eigentlichen Namen der Tiere über die Barcodes. Als Metzger weiß ich also an dieser Stelle zum letzten Mal, dass ein Tier die „Inge“ oder die „Lise“ war. Für mich ist das Schieben durch diese Tür der Übergang.

Schlachten ist nicht schön. Es ist weder abstoßend oder widerlich. Es ist schlicht nicht schön. Punkt! Es ist auch gefährlich und anstrengend. Viele Metzger lehnen das Schlachten rundweg ab. Das Reißen des verletzten Tierkörpers setzt sich im Körper des Schlachters bis in seine Psyche fort. Ich nenne das das „schnelle Trauma“. Einige meiner Kollegen sind deshalb der Ansicht, dass das Schlachten eine Arbeit für junge Menschen ist. Ab dem 40. Lebensjahr ziehen sie sich davon innerlich zurück.

Foto: Vivi d’Angelo

„Keiner schlachtet gerne“

Ich konnte in den vergangenen Jahren mit einigen meiner Kollegen, meinen Mitschülern und Lehrern über das Schlachten sprechen. Viele sind als Töchter oder Söhne von Bauern- oder Metzgerfamilien mit dem Schlachten aufgewachsen. Keiner schlachtet gerne und keinen lässt es auch nur gleichgültig. Alle sind hart arbeitende, pflichtbewusste Menschen, die Tiere lieben. Viele lehnen diese Arbeit aus persönlicher Abneigung ab oder sind körperlich dazu nicht (mehr) in der Lage. Ich schätze, dass heute nur noch einer von 200 Metzgern aktiv schlachtet.

Im Übrigen gibt es heutzutage auch häufig keine Möglichkeit zum Schlachten. In München beispielsweise darf das seit Inbetriebnahme des zentralen Schlachthofs im Jahr 1878 kein Metzger mehr selbst machen. Mangelnder Nachwuchs, hohe bürokratische Vorschriften und geringe gesellschaftliche Akzeptanz erschweren die Arbeit zusätzlich. Aus all diesen Gründen ist handwerkliches Schlachten, wie ich es in Herrmannsdorf gelernt habe, selten geworden. Tatsächlich war ich am 4. Juli 2016 der einzige Prüfling im Landkreis München und dem südlichen Oberbayern. Da die Münchner Berufsschule die Prüfung für sechs Landkreise zusammenführt, war das ein Lehrling auf ca. 2,2 Millionen Menschen. Das ist offensichtlich nicht nachhaltig. Mich stimmt das traurig.
In letzter Konsequenz bedeutet das, dass das handwerkliche Wissen um das Schlachten als auch um die Nachschlachtarbeiten – vom Ausnehmen bis zum Reinigen der Därme – aus unserem gemeinsamen gesellschaftlichen Erbe verloren geht.

Wer, wenn nicht ich?

Als ich einmal am Produktionsband eines großen industriellen Schlachthofs stand, wurde ich tatsächlich von einem der Mitarbeiter gefragt, warum ich als Deutscher noch so eine Arbeit verrichten würde? Diese Frage hat mich erschrocken. Ich habe diese Abenteuer begonnen, weil ich lernen wollte, wie man eine Hausschlachtung durchführt. Herausgefunden habe ich, dass mir das in Deutschland keiner mehr beibringen kann.

Jeder Metzger entscheidet für sich, ob seine Liebe zur Arbeit, seine Gesundheit sowie seine familiären, finanziellen und zeitlichen Bedingungen diese Tätigkeit für ihn möglich machen. Schlachten ist letztlich nur eine hinreichende, aber sicher keine notwendige Bedingung für das gute Handwerk. Für mich steht, neben der handwerklichen Tradition, die eigene Verantwortung im Vordergrund. Das Schlachten ist eine Arbeit, die Ernst, Konzentration und Zügigkeit verlangt.
Meine Antwort auf die Frage des Kollegen am Produktionsband war also: Wer denn, wenn nicht ich?

Über den Autor: Thomas Winnacker

Thomas Winnacker ist Metzgermeister und Unternehmensberater. Er erhielt seine Ausbildung bei den Herrmannsdorfer Landwerkstätten und arbeitete anschliessend bei der Öko-Metzgerei Landfrau.

Seit seiner Ausbildung in Herrmannsdorf interessierte sich Thomas für das Schlachten. Während der Meisterschule konnte er auch intensive Einblicke in die Arbeit eines Großschlachthofs gewinnen. Seit 2017 gehörte er zum neuen Führungsteam des Schlachthofs in Fürstenfeldbruck. Als Betriebsleiter hat er maßgeblich dazu beigetragen, diesen wertvollen regionalen Schlachthof wieder zu eröffnen.

Für Fleischglück.de möchte Thomas die Vorgänge rund um das Schlachten transparent machen. Er sagt: „Fleisch ist das wertvollste Produkt der Welt. Für jeden Bissen ist ein Tier gestorben! Das dürfen wir nicht verstecken. Wir müssen über das Töten reden.“

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