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Karl-Ludwig Schweisfurth: Ein persönlicher Nachruf

Karl-Ludwig Schweisfurth: Ein persönlicher Nachruf

Der Rhythmus der Arbeit in den Herrmannsdorfer Landwerkstätten in Glonn ist bestimmt durch ihre Metzgerei. Das pulsierende Herz dieser Metzgerei ist der Zerlegeraum. Hier fühlen sich die Metzger am wohlsten. Sie sind unter sich, arbeiten, reden und scherzen. Im März 2015 war ich bereits seit zwei Monaten Lehrling in der Metzgerei. Ich konnte mir langsam die Namen der anderen Metzger merken und verstand, wer welche Aufgabe hatte. Ich war zwar weit der Geschicklichkeit oder dem Tempo der anderen Metzger entfernt, aber ich bekam Routine.

Eines Morgens während der Rinderverarbeitung betrat ein mir unbekannter Mensch die Zerlegung. Er war älter, schlank und makellos gekleidet. Allerdings nicht im traditionellen Weiß der Metzger sondern eher wie ein Jäger. Er trug eine Schürze und einen Jagdhut. In der Hand hielt einen kleinen Picknickkorb. Anfangs wunderte ich mich nicht. Ich sah auch kaum auf. Die Herrmannsdorfer Metzger erhalten häufig Besuch. Um so überraschter war ich dann aber, dass sich dieser Mensch zwischen die Metzger an den Zerlegetisch einreihte; mit einer besonderen Seelenruhe in diesem stürmischen Meer. Ihm wurde stillschweigend Platz gemacht. Er öffnete seinen Picknickkorb und holte verschiedene Messer hervor. Scheinbar aus dem Nirgendwo trug ein Metzger ein Reh herein und legte es vor ihm auf den ohnehin schon sehr vollen Tisch. Mit großem Selbstverständnis und fast ohne hinzusehen zerlegte dieser Mann dann das Reh. Dabei trug er fröhlich und höflich zur Unterhaltung bei. Er kannte alle, wollte Persönliches wissen und berichtete von seinen Ideen. Nach vollendeter Arbeit legte er seine Messer zurück in den Picknickkorb. Die Metzger räumten das Wildfleisch ab. Er bedankte sich höflich und entschwand.

Ich stand ihm schräg gegenüber auf der anderen Seite des Tisches. Ich war am Kämpfen mit dem Auslösen eines Rinderhalses. Erst während des Frühstücks erklärte mir ein Metzger, dass das Karl-Ludwig Schweisfurth gewesen war, der Gründer der Herrmannsdorfer Landwerkstätten. Er war selbst Metzgermeister, es war sein Zerlegetisch und er war hoch geachtet unter den Metzgern. Ich habe ihn später noch häufig in der Metzgerei beobachtet. Er diskutierte häufig mit Jürgen Körber oder den Abteilungsleitern. Er arbeitete an neuen Ideen oder führte Besucher durch die Werkstätten.

Einige Monate später lernte ich ihn dann anlässlich einer Veranstaltung im hofeigenen Restaurant, dem Schweinsbräu, kennen. Er hatte schon von mir, dem alten Lehrling, gehört. Er war neugierig zu erfahren, warum ich mich zu diesem Schritt erst spät in meinem Leben entschlossen hatte. Er hatte ja selbst ein Leben vor Herrmannsdorf. Erst einige Jahre und viele Gespräche später war er mit meiner Antwort zufrieden.

Ich habe Karl Ludwig als außergewöhnlich großzügigen und interessierten Menschen kennengelernt. Ob er mich zu den Treffen seiner Leuchtturmbauer einlud, mir Bücher lieh, Ratschläge zum Kochen gab oder einfach zuhörte: er zögerte nie. Er hatte auch indirekt großen Einfluss auf mich und andere Metzger in seinem Umfeld. Er gehörte zu den seltenen Menschen, die davon überzeugt sind, dass nur ein schönes und offenes Arbeitsumfeld ein angenehmes und damit lohnenswertes ist. Er wollte in schöner Umgebung arbeiten und an der Arbeit Freude haben. Dunkle oder allein durch Technik bestimmte Orte wird man in Herrmannsdorf nicht finden. Für den Schlachtraum beispielsweise hat er extra prähistorische Jagdszenen nachschmieden lassen. Jeder Raum, ja jedes Feld in Herrmannsdorf ist durch ein Kunstwerk bestimmt. Jeder Produktionsraum ist für Besucher geöffnet oder über Tribünen zu besichtigen. Es ist von außen kaum erkennbar, welche Arbeit den Mitarbeitern damit auferlegt wird oder welche Kämpfe mit offiziellen Behörden dafür ausgefochten werden müssen. Die Energie des Ortes ist aber für jeden spürbar.

Der Wille zur Schönheit hatte auch einen spirituellen Aspekt. So habe ich das Erntedankfest erst in Herrmannsdorf wieder schätzen gelernt. Aber es ging tiefer. Karl Ludwig wollte sich in Herrmannsdorf die Warmfleischverarbeitung, eine alte handwerkliche Technik der Wurstproduktion, wieder erarbeiten. Er erklärte mir einmal, warum ihm die unmittelbare Nähe von gut lebenden Tieren zur Schlachtung und dann zur Verarbeitung so außergewöhnlich wichtig war: Die Wurst kann nur dann gut werden, wenn das Lebenselixier des Tieres noch spürbar ist. Alles andere ist nur totes Fleisch. Wem sollte das gut tun?

Eine große Sorge hatte Karl Ludwig immer in unseren Gesprächen. Ihn trieb die Frage um, ob die Menschen, die bei Herrmannsdorfer arbeiten und die Kunden, die die Lebensmittel einkaufen wirklich verstehen, was er hier erreichen wollte. Ich konnte ihm diese Sorge nicht nehmen. Sein Anspruch diesbezüglich war enorm. Biologisches Arbeiten war ihm ein metaphysischer Lebensentwurf. Er meinte einmal: „Wir müssen immer wieder hinterfragen, wie wir mit unseren Tieren umgehen! Wie sollen sie leben, wie gestalten wir ihren letzten Weg? Die Diskussion über einzelne Quadratmeter Stallflächen führt in die industrielle Sackgasse!“ Er lobte es ausdrücklich, dass ich mich für das Schlachten interessiere: „Unter zivilisierten Menschen muss es möglich sein, über das Töten zu reden. Wir müssen über das Töten reden!“

Einen Aspekt seiner unternehmerischen Unruhe habe ich leider erst viel zu spät entdeckt: Den Einfluss seiner Arbeit bei Herta. Die heute allgemein eingesetzten Standards der Fleischsortierung und die dadurch möglich gewordenen betriebswirtschaftlichen Kalkulationen wurden zwar nicht bei Herta erfunden, sie wurde aber früh dort angewandt. Wenn der Marktführer diese Methoden einsetzt, dann ist da Druck dahinter! Die Leitsätze für Fleischerzeugnisse beruhen bis heute auf diesen Systemen und jeder Lehrling erkämpft sich diese Berechnungen. Herta hat auch visionär Mindesthaltbarkeitsangaben eingeführt und experimentierte frühzeitig mit Aufschnitt- und Verpackungssystemen; das hat den Lebensmittelhandel verändert und sorgt bis heute für die durchgehend hohe Qualität unserer Lebensmittel in Deutschland. Ich erfuhr auch, dass die Firma Herta früh ein eigenes Fleischforschungsinstitut gründete (wo gibt es heute so etwas?) und aktiv am Aufbau eines Studiengangs zum Fleischtechniker mitwirkte. Er hat es mir gegenüber nie erwähnt, aber das Nestlé später Herta herunterwirtschaftete, muss ihn geschmerzt haben.

Karl Ludwig war mit Leib und Seele Metzger und er war stolz auf seinen Meistertitel. Herta baute er noch als Geselle auf. Als ich selber Meister wurde, bot er mir das „Du“ an. Ich habe es nur teilweise angenommen. Ich nannte ihn „Karl Ludwig“ aber blieb beim „Sie“. Mehr lies mein Respekt nicht zu. Ich bin dankbar, dass ich ihn auch nach meiner Zeit in Glonn häufig im Eishaus besuchen durfte. Manchmal zusammen mit meinem Vater, Ernst-Ludwig Winnacker, manchmal auch mit meiner Freundin Cindy. Auch meine neugeborene Tochter, Mathilda, hat er noch kennengelernt.

Karl Ludwig Schweisfurth war bestimmt ein anspruchsvoller, fordernder und unruhiger Geist. Und ob man sich für Kunst und Schönheit interessiert oder nicht, bleibt jedem selbst überlassen. Aber man muss anerkennen, dass diese Lebensweise den Blick hebt und weitet. Man schaut sich um. Das war eine der großen Gaben von Karl Ludwig: Sich umschauen und anderen zeigen, wie das geht.

Bild: Vivi d’Angelo

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